Montag, 11. Oktober 2010

Professor Schulze und die Weiber (Forts.)

Was Agathe nicht wusste, war, dass Julius eine Kartei angelegt hatte. Eine Kartei zu allen seinen Beziehungen, aber auch zu Frauen, die ihn in seiner Detektei aufgesucht und ihm aus ihrem Leben berichtet hatten. Für die meisten war eine Art Therapeut gewesen. Natürlich hatte er alle Namen und Fakten leicht verändert, und über all diese Frauen wird in der dritten Person berichtet. Zum Beispiel über Linda Zobel:
Als Linda Zobel, jäh aus dem Schlaf auffahrend, sich im Bett aufrichtete, hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wie viel Uhr es war und wie lange sie schon geschlafen haben mochte. Das Zimmer war von milchigem Mondlicht erfüllt. Die aufrecht sitzende junge Frau, der eine Flut dunkelbraunen Gelocks auf die schmalen Schultern herabfiel, merkte jetzt, dass ihr Herz wie rasend hämmerte. Was war geschehen? Linda fröstelte. Vor dem Fenster stand der Herbst. Der nackte Ast eines schon ganz kahlen Kastanienbaums hob sich vom Mondlicht ab. Wieder drang die Frage auf Linda ein: Was war geschehen? Was hatte sie geweckt?
Langsam begannen nun endlich ihre Gedanken zu arbeiten. Habe ich geträumt? Fragte sie sich misstrauisch. Aber nein! Kein Traum! Ein leises Geräusch war es gewesen, ein Geräusch wie schleichende Schritte und geflüsterte Worte. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das bleiche Dämmerlicht. Sie konnte alle Einzelheiten im Zimmer unterscheiden. Dort an der Wand hing das Bild des Vaters im feierlichen, schwarzen Rahmen. Solange Linda denken konnte, hing dieses Bild da. Sie meinte, die strengen, dunklen Augen des ernsten und verschlossenen Mannes auf sich ruhen zu fühlen wie die eines lebenden Menschen...
Ja, ja, erinnerte sich Julius. Das war die Geschichte mit dem starken Vater, der mit seiner Tochter ein vielleicht zu inniges Verhältnis pflegte. Mit der ständigen Angst vor ihm, von der ich sie erst einmal befreien musste. Dann aber... Die erste Nacht verbrachten sie in einen Hotel. Nein, nicht in Bayreuth. Dort hätte man sie erkennen können. Sie fuhren nach München ins Hotel Vier Jahreszeiten. Julius fuhr auch sonst immer wieder mal nach München, um dem Bayreuther Provinzmief für ein paar Tage zu entkommen.

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